Hürden der Beteiligung überwinden

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Die Demokratie ist in einer Vertrauenskrise. Viele Menschen fühlen sich von politischen Entscheidungen ausgeschlossen und sehen ihre Interessen nicht ausreichend vertreten – womit sie in Teilen auch Recht haben. Daher müssen wir unsere demokratischen Prozesse weiterentwickeln und ergänzen. Die bevorstehende Bundestagwahl ist ein guter Moment, sich darüber Gedanken zu machen, wie man diese Menschen wieder erreicht. 

Bürgerbeteiligung ist ein Ansatz, um die empfundene und reale Distanz zwischen Bürger:innen und Politik zu verringern. Viele Untersuchungen (z. B. Bürgerrat Ernährung im Wandel oder Evaluation Bürgerrat Forum Corona Sachsen) weisen darauf hin, dass die Teilnahme an derlei Veranstaltungen das Vertrauen in politische Institutionen und Mandatsträger:innen stärkt. Darüber hinaus fördern Beteiligungsprozesse das Verständnis für politische Entscheidungen, eröffnen neue Perspektiven und schaffen ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl, indem Bürger:innen aktiv in die Gestaltung ihres Umfelds eingebunden werden. Gerade bei beteiligungsfernen Gruppen sind die positiven Effekte einer Beteiligung besonders stark. Das zeigt zum Beispiel der Evaluationsbericht von Hallo Bundestag.

Die meisten Beteiligungsprozesse basieren auf dem Losverfahren. Dies bedeutet, dass zufällig ausgewählte Bürger:innen eine Einladung per Post erhalten, um an einer moderierten Veranstaltung teilzunehmen. Das Zufallsverfahren zur Auswahl der Teilnehmenden kann über das Einwohnermelderegister, den Marketing-Dienstleister Postdirekt, oder durch zufällig generierte Telefonnummern erfolgen. Wie die Einbindung schwer erreichbarer Zielgruppen und eine breite Beteiligung gelingt, können Sie hier nachlesen. 

Ein Großteil der eingeladenen Personen meldet sich auf solche Einladungsschreiben nicht zurück oder sagt ohne Angabe von Gründen ab. Und wenn sie Absagegründe nennen, werden diese oft nicht systematisch erfasst. Meistens melden sich nicht einmal 10 % der Menschen, die eine Einladung bekommen haben, überhaupt zurück. Eine stille Mehrheit von über 90 % bleibt ein Rätsel: Haben sie die Einladung vergessen? Sind sie zeitlich verhindert? Oder steckt hinter der Funkstille eine tiefere Skepsis gegenüber „der Politik“?

Ein besseres Verständnis der Absagegründe ist wertvoll, um Beteiligungsprozesse noch vielfältiger und inklusiver zu gestalten. Es kann aufzeigen, wie Beteiligungsvorhaben verbessert werden können, um mehr Menschen zu erreichen – insbesondere auch Menschen, die nicht zu den „üblichen Verdächtigen“ gehören, die an solchen Prozessen teilnehmen.

Mehr als 800 Absagen ausgewertet

Die Praxis zeigt, dass an Beteiligungsprozessen vor allem Menschen aus bestimmten Gruppen teilnehmen: Akademiker:innen, politisch Interessierte oder bereits engagierte Personen. Gleichzeitig bleibt ein großer Teil der Bevölkerung schwer zu erreichen. Wir haben mehr als 800 Absagen in zwei Beteiligungsverfahren systematisch untersucht, um der Frage auf den Grund zu gehen: Warum haben viele Menschen kein Interesse, sich in Beteiligungsprozessen einzubringen? Die beiden Prozesse, die wir uns angeschaut haben, sind das Forschungsprojekt Ariadne und das Projekt Hallo Bundestag.

Forschungsprojekt Ariadne

Ziel des Forschungsprojektes Ariadne ist es, Lösungen für die politische Gestaltung der Energiewende zu finden, die sowohl wissenschaftlich fundiert sind als auch von der Gesellschaft mitgetragen werden. Über 150 zufällig ausgewählte Bürger:innen diskutierten 2024 auf der Bürgerkonferenz zu konkreten Maßnahmen, um die Sichtweisen, Meinungen und Wertvorstellungen der Bevölkerung in die evidenzbasierte Politikberatung einfließen zu lassen. Mehr Informationen finden Sie auf der Ariadne-Projektwebseite.

Knapp 150 Bürger:innen kamen zur Ariadne-Bürgerkonferenz im Juni 2024 nach Fulda (Bildquelle: Eike Zimmermann, zk Film).

Hallo Bundestag

Hallo Bundestag war ein Projekt der Initiative Es geht LOS, das zwischen Januar 2023 und August 2024 stattfand. Hier wurden 17 sogenannte Wahlkreistage in insgesamt 6 Wahlkreisen Deutschlands durchgeführt. An einem Wahlkreistag kommen ca. 25 ausgeloste Personen mit ihren Bundestagsabgeordneten zusammen und in direkten Austausch, um über ein politisch relevantes Thema zu diskutieren, Probleme zu identifizieren und gemeinsam Ideen zu entwickeln.

Teilnehmende der Abschlussveranstaltung von Hallo Bundestag feiern im Juni 2024 den Projektabschluss mit einer Demokratie-Laola (Bildquelle: Es geht LOS).

In beiden Projekten haben wir das Aufsuchende Losverfahren angewandt. Dieses Verfahren geht über die Einladung per Post hinaus: Personen, die sich auf den Einladungsbrief sowie ggf. ein Erinnerungsschreiben nicht zurückgemeldet haben, werden zu Hause besucht. In persönlichen Gesprächen an der Haustür versuchen wir herauszufinden, weshalb auf die Schreiben nicht geantwortet wurde. Außerdem können wir mögliche Bedenken klären, Vorbehalte abbauen und offene Fragen klären. In beiden Projekten konnten wir durch den direkten Kontakt Menschen doch noch für eine Teilnahme gewinnen.

Neben den Haustürgesprächen haben wir auch telefonische Rückmeldungen und Absagen per E-Mail in die Untersuchung einbezogen. So haben wir insgesamt mehr als 800 Absagen gesammelt und Gründe systematisch ausgewertet. Das Ergebnis: Hinter den Absagen stehen oft konkrete Bedarfe, denen wir begegnen können.

Sie möchten bei Ihrem Beteiligungsformat Absagegründe erfassen? Wir haben eine Vorlage für einen Fragebogen erstellt, die Sie hier herunterladen können (als PDF).

Warum Bürger:innen absagen

Die Absagegründe bzw. Bedarfe lassen sich in drei Kategorien einteilen:

  1. Bedarfe, auf die gezielt eingegangen werden kann:
    Ungefähr 3 bis 7 % der Absagen sind vermeidbar. Die Bedarfe, die hinter diesen Absagen stehen, umfassen Bedenken, sich wohlzufühlen, ein Mangel an Bildung oder Wissen, um sich in den Dialog einzubringen sowie Sprachbarrieren bzw. unzureichende Deutschkenntnisse. Häufig wird auch die Entfernung zur Veranstaltung als Hürde genannt, die eine Teilnahme erschwert.
  2. Bedarfe, denen nur teilweise begegnet werden kann:
    Für circa 70 % der Absagen gibt es Lösungsansätze, aber oft bleiben Einschränkungen bestehen. Die Personen sagen ab, weil sie zu wenig Zeit, mangelndes Interesse an den Themen haben oder gesundheitlich eingeschränkt sind.
  3. Absagegründe, die immer bleiben werden:
    Etwa 30 % der eingeladenen Personen werden vermutlich nie teilnehmen. Das liegt an unüberwindbaren Gründen wie Arbeit, private Verpflichtungen (z. B. Hochzeiten), persönliche Belastungen oder kurzfristiger Erkrankungen nach einer bereits erfolgten Zusage. Hierbei handelt es sich also um Faktoren, die auch durch Anpassungen des Prozesses nicht geändert werden können. Prekäre Umstände, andere Sorgen oder die Unmöglichkeit, an Samstagen teilzunehmen, spielen ebenfalls eine Rolle.

Die detaillierte Auswertung der Absagegründe finden Sie hier (PDF zum Download).

Acht Fragen für effektivere Beteiligungsprozesse

Wir sehen: Bis zu 70 % der Gründe für eine Absage können durch gezielte Maßnahmen zumindest teilweise überwunden werden. Beteiligung kann niemals alle erreichen. Aber durch zusätzlichen Aufwand und maßgeschneiderte Angebote haben wir die Chance, mehr Menschen für den Prozess zu gewinnen. Das kann ein zweiter Brief sein, ein Besuch zu Hause, oder das Bereitstellen von Unterstützungsangeboten wie Übersetzungen. Es ist wichtig, die erforderlichen Aufwände für solche Maßnahmen von Anfang an in das Projektbudget einzuplanen. Damit können wir mehr Menschen erreichen und eine inklusivere, barrierefreie Teilnahme ermöglichen. Dies führt zu einer stärkeren und breiteren Beteiligung, die das Vertrauen in politische Prozesse und Institutionen nachhaltig stärkt.

Als Ergebnis unserer Auswertung haben wir acht Fragen für effektivere und inklusivere Beteiligungsprozesse entwickelt. Sie sollten bei der Konzeption und Umsetzung berücksichtigt werden und darüber hinaus Eingang in die Forschung und Politik finden:

  1. Wie können wir Menschen, die am Wochenende arbeiten, besser einbinden?
    Da viele Veranstaltungen am Wochenende stattfinden, könnte eine Lösung darin bestehen, die Teilnahme an Bürgerräten offiziell als Ehrenamt anzuerkennen. Belgien kann als Vorbild für andere Länder dienen: Hier können Arbeitnehmende freigestellt werden, um an Beteiligungsformaten teilzunehmen.
  2. Wie können wir die die Teilnahmebereitschaft von Menschen, die Care-Arbeit leisten, erhöhen?
    Eltern fällt die die Teilnahme leichter, wenn es eine Kinderbetreuung am Veranstaltungsort gibt. Alternativ kann die private Kinderbetreuung unterstützt oder finanziell entschädigt werden. Ähnlich sieht es aus, wenn Teilnehmende pflegebedürftige Angehörige haben. 
  3. Welche Rolle können Vor- und Nachbefragungen oder eine begleitende Online- bzw. Hybrid-Beteiligung spielen?
    Beteiligung von zu Hause, vor dem eigenen Computer? Digitale und hybride Formate können Menschen eine Teilnahme ermöglichen, die sonst zum Beispiel durch eine lange Anreise oder familiäre Verpflichtungen abgeschreckt wären.
  4. Wie können wir das Interesse an Beteiligung erhöhen?
    Liegt es an der Themenwahl oder braucht es mehr Verbindlichkeit der Entscheidungen, damit Menschen sich für eine Teilnahme interessieren? Oder sind die Formate bislang einfach noch zu unbekannt, um das Interesse zu wecken? Welche Themen und Fragen sind besonders bürger- und lebensnah (formuliert) und eignen sich daher besonders für die Bürgerbeteiligung? 
  5. Welche Rolle können Stellvertreter:innen und Begleitpersonen aus dem Familienumfeld spielen?
    Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung brauchen oft besondere Hilfe, um an Beteiligungsprozessen teilzuhaben. So können sie ihre Perspektiven mit einbringen. 
  6. Welche Maßnahmen helfen, Sprachbarrieren oder Wissenslücken zu überwinden, damit sich alle sicher und willkommen fühlen?
    Hierunter fallen zum Beispiel professionelle Dolmetscher:innen und mobile Übersetzungsgeräte. Es ist auch möglich, Unterstützung aus dem privaten Umfeld der Teilnehmenden einzubinden oder gezielt Fokusgruppen durchzuführen.  
  7. Wie können wir Ängste vor der Arbeit mit fremden Menschen oder an politischen Themen abbauen?  
    Bewährt haben sich vorbereitende Deliberationstrainings, um mit den Teilnehmenden die Arbeitsweise im Beteiligungsformat spielerisch einzuüben. Beteiligung funktioniert außerdem auch ohne Worte: zum Beispiel übers Malen oder andere kreative Techniken. 
  8. Wie können wir auf weitere Bedürfnisse – viele davon gesundheitlicher Natur – reagieren?
    Nicht zuletzt dieser Punkt wird in einer weiter alternden Gesellschaft an Bedeutung gewinnen.

Ihre Ansprechpersonen

Daniela Steidle

ifok | Senior Consultant Klima & Energie

daniela.steidle@ifok.de

Paul Naudascher

Es Geht Los | Projektmitarbeiter Hallo Bundestag

paul@esgehtlos.org

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